Kulturelle Vielfalt ist Realität
In Deutschland leben Menschen aus über 190 Staaten dieser Welt. Über 20% der Bevölkerung haben ihre Wurzeln in anderen Kulturen als der deutschen. Menschen mit verschiedenen religiösen, ethnischen Prägungen, sexueller Orientierung, Menschen unterschiedlichsten Alters, mit und ohne Handicap – sie alle bilden die deutsche Gesellschaft. Kulturelle Vielfalt ist in Deutschland also Realität.
Jedoch haben Menschen mit Migrationsgeschichte oft keinen ausreichenden Zugang zu gesellschaftlich wichtigen Bereichen wie Bildung, Arbeit oder auch dem Gesundheitsbereich. Und dies gilt leider auch für die Selbsthilfe – hat sich die Selbsthilfe doch zu einem anerkannten und wichtigen Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland entwickelt. Sie ist eine wichtige und auch notwendige Ergänzung zu therapeutischen Maßnahmen und sichert oder unterstützt deren Erfolg auch über einen langen Zeitraum hinweg, manchmal bis zum Lebensende. Dass dies gut funktioniert, ist in vielen Kulturen aber nicht oder nur unzureichend bekannt.
In einem Gespräch mit einem Familienvater aus der Türkei fragte mich dieser: »Was bedeutet ›Selbsthilfe‹? Heißt das, ich soll mir selbst helfen? Ja? Was ist eine ›Selbsthilfegruppe‹ eigentlich? Eine Gruppe, die mir hilft? Oder soll ich der Gruppe helfen? Wie soll das Helfen funktionieren, ohne dass eine Fachperson dabei ist? Und vor allem, wie können mir Personen helfen, die das gleiche Problem haben wie ich?«
Dieses Gespräch zeigte mir deutlich wie unterschiedlich die verschiedenen Konzepte zur Gesundwerdung oder Gesunderhaltung in den verschiedenen Kulturen dieser Welt sein können. In der türkischen Sprache gibt es noch nicht einmal ein entsprechendes Wort für »Selbsthilfe«. Auch das Bild von »Krankheit« kann sehr unterschiedlich sein.
Unser Verband möchte sich den sich ändernden gesellschaftlichen Bedingen stellen und unsere Gesprächsgruppen und deren Arbeitsweise für Migrantinnen und Migranten bekannt, attraktiv und niederschwellig zugänglich machen. Dazu reicht es, wie obiges Beispiel eindringlich zeigt, nicht aus, bestehende Flyer in andere Sprachen zu übersetzen, sondern es bedarf einer intensiveren Auseinandersetzung mit den kulturellen Besonderheiten, auch und gerade in Bezug auf Abhängigkeitserkrankungen.
Was bedeutet »Kultursensible Öffnung«?
Als Grundvoraussetzungen interkultureller Kompetenz gelten Feinfühligkeit und Selbstvertrauen. Das Verständnis anderer Verhaltensweisen und Denkmuster und ebenso die Fähigkeit, den eigenen Standpunkt transparent zu vermitteln, verstanden und respektiert zu werden, sind wichtig. Die Unterschiede können nämlich vielfältig sein:
- die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe wird in manchen Kulturen als Niederlage und nicht als Chance gesehen
- Migrantinnen und Migranten nehmen Beratung und Unterstützung erst sehr spät an
- Sucht und Drogen sind in vielen Ländern noch stärker tabuisiert als in Deutschland
- Schambesetzte Themen werden oft nicht mit Fremden besprochen
- Sucht wird, entgegen landläufiger Meinung, auch in der Familie oft nicht thematisiert
- in vielen Ländern haben Ärzte und Lehrer eine höhere Akzeptanz als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Suchtberaterinnen und Suchtberater
- Alters- und Geschlechtsunterschiede von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Suchtberatung und dem »Klienten« können eine erhebliche Rolle bei der Akzeptanz von Hilfsangeboten spielen.
Eine ausreichende Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund an Gesprächskreisen und Gemeinschaften kann nur gelingen, wenn wir die vorhandenen Strukturen öffnen und auf die Bedürfnisse der Menschen zugehen. Im Sinne der aufsuchenden Hilfe sollten wir in die polnischen Kulturvereine, in die türkischen Teestuben gehen, an die Orte, wo sich Migrantinnen und Migranten eben bewegen. Anbieter von Deutschkursen, muttersprachliche Ärzte, Beratungsstellen für Migrantinnen und Migranten, muttersprachliche Branchenbücher… Hier gibt es große Schnittstellen zu unserem CNN-Projekt: Chancen nahtlos nutzen. Es wäre eine Bereicherung für beide Seiten.
Wertschätzung von Vielfalt bedeutet ohne Angst verschieden sein zu können.
(Theodor W. Adorno)